Ein altes Handwerk, das glücklich macht und was August Bebel damit zu tun hat.

Wetzlar gilt zu Recht als eine mittelhessische Stadt, in der bedeutende Menschen gelebt haben und nachhaltig wirkten und noch wirken. Zu den klangvollen Namen Johann Wolfgang von Goethe, Ernst Leitz und Johann Wolfgang Buderus sollte künftig häufiger als in der Vergangenheit der Name August Bebel genannt werden.

Und zwar aus aktuellem Anlass. Am 8. August 2022 bestätigte das Finanzamt Wetzlar die Gründung des Vereins zur Förderung des Drechslerhandwerks Wetzlar e.V.

Aber was hat August Bebel als Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie und verehrter „Arbeiter-Kaiser“ mit dieser Gründung zu tun? August Bebel startete 1854 in Wetzlar, der Geburtsstadt seiner kurz vorher verstorbenen Mutter, eine Lehre als Drechsler. Wie damals üblich ging er auf Wanderschaft quer durch Deutschland. Er erwarb den Meistertitel im auch damals angesehenem Handwerk des Drechslers und eröffnete schließlich in Wetzlar eine eigene Werkstatt im Hof des Hauses Drei Könige. Es ist überliefert, dass August Bebel als Unternehmer schon damals seinen Arbeitern höhere Löhne bei geringeren Arbeitszeiten zahlte.

Und in dieser geschichtsträchtigen Stadt eröffnet pünktlich zum Gallusmarkt in der Langgasse 37 (ein ehemaliges Modegeschäft) eine Drechslerei mit historischen und modernen Arbeitsgeräten. Große Fenster und Türen geben die Blicke frei auf ein Handwerk, das wie kein anderes mit der Kulturgeschichte der Menschheit verbunden ist.

Drechseln ist die rotationsmechanische Bearbeitung vor allem von Holz. Das Werkstück Holz wird zentrisch bewegt, während der Drechsler mit eisernen Werkzeugen Material innen und außen abnimmt. So entstehen seit Jahrhunderten nützliche Werkstücke wie Spinnräder, Schalen, Töpfe, Stühle, Tischbeine und tausend weitere Objekte unserer Alltagskultur.

Wenn in der Drechslerwerkstatt der Rundmacher gearbeitet wird, ist Publikum hochwillkommen. Je neugieriger desto besser. Die Wetzlarer Rundmacher verfügen nicht wie einst August Bebel über einen Gesellenbrief, dafür aber über viel Lust und Freude am Handwerk. Sie haben sich die Fertigkeiten meist autodidaktisch angeeignet, beispielsweise in Kursen namhafter Drechslermeister.

Wer verstehen will, weshalb bis heute 22 Männer und Frauen einen Verein gründen, um das klassische Handwerk des Drechslers zu popularisieren, muss einsteigen in die wundersame Welt der Hobbydrechsler. Deren Zahl wächst im deutschsprachigen Raum von Jahr zu Jahr, begünstigt durch die wechselseitige Kommunikation in Internet-Foren. In ihnen tauschen sich mehrere tausend Hobby-Drechsler auch über die europäischen Grenzen hinaus aktuell aus. Sie verabreden sich zu regionalen Stammtischen oder internationalen Treffen. Das jüngste fand im Juni 2022 im Freilichtmuseum Hessenpark in Neu-Anspach mit fast 2000 Besuchern statt.

Die anfängliche Skepsis der professionellen Drechsler, also jener Handwerker, die eine entsprechende Lehre absolviert haben und vom Ertrag ihrer Arbeit leben, ist einer anerkennenden Beobachtung gewichen.

Die Hobbydrechsler stehen nicht unter dem Zwang, Erlöse zu erzielen. Sie gestatten sich den Luxus unkonventioneller Werke. Sie bringen damit neue Formen und Techniken in die Szene der Rundmacher.

Die Wetzlarer Rundmacher laden neugierige Menschen vorerst jeden Samstag von 10 bis 18 Uhr in ihre Werkstatt in der Altstadt ein. Nicht nur zum Zuschauen, sondern auch zum Mitmachen. Die Faszination dieses Handwerks liegt im Machen, im Ausprobieren und im fortwährenden Prozess der Veränderung des Werkstücks Holz. Drechseln ist ein spannendes Zusammenspiel von Kopf (also Fantasie), Auge und Hand (Körper) mit spanabnehmenden Werkzeugen. Jede Zehntelsekunde verändert sich beim rotierenden Werkstück die Führung des Schneidwerkzeuges mit der Hand und somit die Form des hölzernen Werkes – eben wie von Zauberhand.

Doch mit Zauberei hat Drechseln nichts gemein. Drechseln bedeutet höchste Konzentration und Achtsamkeit. Und ist daher eine sehr wirksame Therapie zum Abbau des alltäglichen Stresses. Drechseln macht glücklich, weiß Heinz Burkert, einer der Initiatoren der neuen Drechslerwerkstatt. Mit 75 Jahren entdeckte er mehr oder weniger zufällig seine neue Leidenschaft, obwohl er als Schreiner und Möbelproduzent zuvor erfolgreich ein Berufsleben abgeschlossen hatte.

In der neuen Werkstatt kann an einer kleinen modernen Drechselbank gearbeitet werden, idealerweise von Anfängern. Das Herzstück aber ist eine 350 Kilogramm schwere gusseiserne Drechselbank der Giessener Maschinenfabrik Heyligenstaedt. Auf dem Typenschild steht die Zahl 1947 als Baujahr. Aber die alte Dame ist fit, auch weil sie mit einem elektronischen Drehzahlregler nachgerüstet ist. Auf ihr können zum Beispiel Schalen bis zu einem Durchmesser von 60 Zentimetern gedreht werden. In Regalen und auf Podesten der Schaufenster überzeugen große Vasen aus Hölzern mit wunderschöner Maserung von der Leistung der Oldtimer-Maschine aus Gießen. Nach dem 2. Weltkrieg wurden in der Maschinenfabrik Heyligenstaedt nur 300 Exemplare dieses Typs gebaut. Weshalb und vor welchem Hintergrund ist auch Teil der mittelhessischen Industriegeschichte. Die Rundmacher sind gern bereit, diese Geschichte zu erzählen.

Überhaupt, Fragen sind erwünscht! Die Hobbydrechsler kennen die Drechslerszene in Mittelhessen, sie sind Teil von ihr und vernetzt über den Drechsler-Stammtisch Rhein-Main, der im Holztechnikmuseum Wißmar (Ortsteil von Wettenberg) eine eigene Werkstatt besitzt. Sie können Informationen über Maschinen, Werkzeuge, über Hölzer aller Art und Auskünfte geben über Drechsler, die qualifizierte Drechselkurse anbieten.

Wer auf der Suche nach nützlichen und schönen, vor allem aber einzigartigen Objekten aus Holz ist, wird in der Werkstatt der Rundmacher fachkundig bedient. Gratis gibt es in der Werkstatt Informationen über die und aus der Welt der Hölzer, natürlich vor allem der europäischen Hölzer.

Holz ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Menschen. Sie berührt Kunst, Musik, Militär, Transport, Religion, Medien, Plastik und – jawohl – auch die Erzeugung von Metallen. (pgw)

Peter Gwiasda aus Wehrheim, international anerkannter Drechselvirtuose und Liebhaber von Drechselbänken der Marke Heyligenstaedt, hat uns diese Zeilen gewidmet. Er ist Mitglied unseres Vereines.